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REVISITING SOFIA

DIGITALER ESSAY
von Frosina Parmakovska

Jede Reise, insbesondere wenn es sich um eine Literatur-Residenz handelt, die zum Ziel hat, den Schaffensprozess zu erleichtern, hat eine enorme Bedeutung für Schriftstellerinnen und Schriftsteller und ihr literarisches Werk. Erst recht, wenn die Rede von längeren Formen wie dem Roman ist, und ganz besonders, wenn es um eine längere Reise von einem Monat oder mehr geht. Das alles traf auch auf meine Literatur-Residenz in Sofia im März 2020 zu, aber … Diese Reise sprengte jeden ihr vorher zugedachten Rahmen, jede ihrer Zielsetzungen, und entwickelte sich zu einem wahren Abenteuer. Und zwar der Literatur und des Lebens.

Da im Folgenden die Geschichte der Covid-19-Pandemie, die nicht nur buchstäblich das gesamte Leben auf diesem Planeten beeinflusste, sondern auch auf meine Residenz, zu der sie parallel verlief, großen Einfluss nahm, unausweichlich sein wird, muss ich mit der Tatsache beginnen, dass es am 1. März, als ich nach Sofia aufbrach, in meinem Land nur einen registrierten Fall einer Covid-19-Infektion gab (eine aus Italien zurückgekehrte Frau), und in Bulgarien keinen einzigen. Das bedeutete unter anderem, dass man in diesen Ländern ganz normal lebte (in Bezug auf die alte Normalität), die Dinge unter Kontrolle waren (es gab nicht einmal etwas, was unter Kontrolle hätte sein müssen), und die Pandemie sich weit weg befand (eine Situation, die sich in schwindelerregendem Tempo ändern sollte).

Nach einer mehrstündigen Busfahrt kam ich nachts in Sofia an und packte meine Sachen für den nun folgenden Monat in dem Haus aus, das einen der angenehmsten Orte darstellte, in denen ich mich jemals mit der Absicht zu schreiben für einen längeren Zeitraum eingerichtet habe. Ein herrliches Haus ist das, nachgelassen von dem Künstler Nenko Balkanski und wunderbar gelegen: Latinska 12 war die Adresse, in der ich neben meinem Körper auch meine Gefühle einquartierte, voller Hoffnung, dass ich mit einem gut ausgearbeiteten Roman nach Hause zurückkehren würde, einem Roman, der seiner Endfassung nahekäme.  

Vom ersten Augenblick an gab ich mich ganz meiner Reise und dem Schreiben hin. Und verwandelte mich auf der Stelle in eine Alteingesessene, weil alles um mich herum sich irgendwie bekannt und wohlig und mir zugehörig und unbeschreiblich vertraut anfühlte. Um ehrlich zu sein, auch die ganze Situation rund um das Virus war ziemlich normal (noch einmal, gemessen an der alten Normalität), und meine Reise beziehungsweise mein Leben musste deshalb keine Einschränkungen hinnehmen. Noch nicht …

Ich kann ohne Übertreibung feststellen, dass die ersten beiden Wochen meiner Residenz vollkommen gewöhnlich verliefen, fast so, als hätte es um mich herum überhaupt keine Pandemie gegeben. Ich ging aus, aß im legendären Happy, aber auch in ein paar kleinen Cafés mit traditionellen Speisen, war ein paarmal im Theater, schrieb im „Schriftstellercafé“ PerotoDie Schreibfeder – im Komplex des NDK (Nationales Kulturheim), besuchte eine Kunstausstellung in der tschechischen Botschaft, ging selbstverständlich in Buchhandlungen, um mich im Titelmeer zu verlieren, und fand sogar eine gigantische Café-Buchhandlung mit toller Atmosphäre, das Greenwich, irgendwo zu Beginn der Vitoška-Straße.

Dann war ich noch zum Abendessen bei meinem bulgarischen Verleger und seiner wundervollen Familie, verbrachte viel Zeit mit Borjana Dodova, einer tschechischen Schriftstellerin bulgarischer Herkunft, die sich ebenfalls in einer Schriftsteller-Residenz befand, maß immer wieder den Boulevard Zar Osvoboditel bis zur Adlerbrücke und zurück bis zur Universität Sveti Kliment Ohridski aus, besuchte die Kirchen Sveta Nedelja, Aleksandar Nevski, Sveta Sofia und Sveti Sedmočislenici und den Park beim NDK und fand zu meiner großen Freude in Sofia mein „Cheers“, den Ort „where everybody knows your name“. Eine tolle Kneipe mit freundlichen Menschen und einer wundervollen Geschichte: Sie hatte Lilavoto geheißen, Purple, und war täglicher Treffpunkt einer Gruppe von etwa zwanzig Leuten gewesen. Das Lilavoto war so zu einem zweiten Zuhause für sie geworden, und sie füreinander so etwas wie eine zweite Familie. Doch plötzlich beschloss der Besitzer, das Lilavoto zuzumachen, und natürlich erlitten die Leute einen Schock. Es war, als griffe jemand nach ihrem Zuhause und ihrer Familie. Das konnten sie einfach nicht zulassen, und was taten sie? Sie gaben sich Mühe, sammelten Geld und übernahmen die Kneipe selbst als Betreiber, und der Name, den sie ihr gaben, war eine wirklich tolle Entscheidung: Beše Lilavoto oder Been Purple wurde zum neuen Lilavoto. Ich ging fast jeden Tag auf ein Bier und gute Rockmusik dorthin, und die Menschen, die ich dort kennenlernte, Zvezdan, Plamen, Asen, das Mädchen mit dem Hund und all die anderen, wurden zu meinen Freunden und nahmen mich herzlich in ihren persönlichen Raum, in ihre Familie auf.

Doch da begannen sich die Angelegenheiten rund um das Virus zu verändern (und das setzte sich dann in schnellem und unvorhersehbarem Tempo fort). Ich weiß noch, wie alles begann: So um 18.30 Uhr kam ich ins Been Purple und bestellte ein Zagorka, und Zvezdan sagte: „Aber nur, wenn du es schnell austrinkst.“ „Warum?“, fragte ich. „Alles wird zugemacht, außer Supermärkten und Apotheken.“ „Ab wann?“ „Seit einer halben Stunde“, antwortete er scherzhaft, aber auch mit einer gewissen Trauer. Das war leider mein letztes Bier im Been Purple und mein letztes Zusammentreffen mit Zvezdan und den anderen.

Plötzlich war die Realität mit Zahlen und einer Terminologie geschwängert, in der die Wörter positiv, negativ, Tests, Krankenhausbehandlung, Sauerstoffzufuhr, Beatmungsgeräte, Sperrstunde, geschlossen, verboten usw. am häufigsten vorkamen. Die Pressekonferenzen von Vencislav Mustafčijski (dem Vorsitzenden des Sofioter Krisenstabs) und Venko Filipče (dem Gesundheitsminister Nordmazedoniens) sah ich mir mit Interesse und Erregung an, so wie einen Sportwettkampf. Sie verschafften mir einen Eindruck davon, wie das Virus in Bulgarien und in Nordmazedonien gesehen wurde. Trotzdem gab es noch keinen Grund zur Panik, nichts, was mich dazu gebracht hätte, an meine Rückkehr nach Hause zu denken, im Gegenteil! Ich ging davon aus, dass im Moment am Wichtigsten wäre, weshalb ich ja gekommen war: das Schreiben des Romans „Auf dem Heimweg“, dessen ersten Teil ich bereits zu Hause vollendet hatte und dessen zweiter Teil, den ich jetzt in Bulgarien schrieb, mit einer hervorragenden Dynamik voranschritt.

Und obwohl sich mein Aufenthalt nach all den Schließungen sichtlich anders gestaltete, konnte ich mich – zieht man in Betracht, dass das Wetter für März ungewöhnlich warm war, mit schönen sonnigen Tagen – weiterhin nicht beklagen. Ich nutzte es aus, um in den wunderbaren Parks Sofias spazieren zu gehen, zum Beispiel in dem Park rund ums NDK, aber auch im faszinierend großen Boris-Garten, der sehr nah an dem Haus lag, in dem ich wohnte. Ausgestattet wie für ein Picknick lagerte ich mich nach meinen Spaziergängen auf das Gras, nahm Laptop, Bierdose und Knabberzeug aus dem Rucksack und dachte, dass es schlicht nicht schöner sein könnte und dass ich den Augenblick wirklich genoss, das herrliche Wetter, das Schreiben des Romans. Und so in etwa verging die dritte Woche meiner Autorenresidenz. Bei einer dieser Picknick-Schreib-Sessions im Grün des Boris-Gartens, als das Virus bereits alle Schlagzeilen beherrschte und einen recht großen Anteil der Wirklichkeit einnahm, lernte ich zwei junge Frauen kennen, die mit einer Flasche Wodka auf mich zukamen und vorschlugen, dass wir uns gemeinsam desinfizieren sollten. Wir hatten eine tolle Zeit zusammen, bis zum Sonnenuntergang, und obwohl ich sie nie wieder gesehen habe und ihnen wahrscheinlich auch nie wieder begegnen werde, ist es für mich eine schöne Erinnerung, wie sie da so herzlich und freundlich auf mich zugegangen sind, in einem Moment, in dem ich mich ein bisschen, wirklich nur ein bisschen, einsam fühlte angesichts all der Aufrufe, zu Hause im Kreise der Familie zu bleiben, während die ganze Welt, ein Land nach dem anderen, dichtmachte.

Als die dritte Woche vergangen war, geschah etwas, das den Verlauf meiner Residenz deutlich verändern sollte, und das war der Beschluss des bulgarischen Krisenstabs, das Spazierengehen und Verweilen in den Parks zu verbieten. Damit fiel auch der letzte „Verteidigungswall der Freiheit“ in sich zusammen, und offen gesagt gab es nun keinen Raum mehr, in dem ich mich hätte bewegen, in dem ich hätte leben und schaffen können. Meine Landkarte schrumpfte auf das Haus, in dem ich wohnte, und den Billa-Supermarkt zusammen. In Anbetracht all dessen und auch in Anbetracht der erschwerten Heimreisemöglichkeiten (die Busverbindungen waren bereits unterbrochen) kam der Augenblick, in dem ich mich mit der Realität abfinden musste: Es war Zeit, nach Hause zu fahren.

So ging ich also in die nordmazedonische Botschaft in Sofia und bat darum, mich zu kontaktieren, wenn man von irgendeiner Transportmöglichkeit hörte (z. B. von jemandem, der mit dem Auto heimfuhr). Zu meiner großen und angenehmen Überraschung bot man mir an, mich mit dem Botschaftswagen bis zur Grenze zu bringen, nicht am nächsten, sondern am übernächsten Tag, und das war eine große Erleichterung für mich, ersparte es mir doch, mit ungewissem Ausgang ein Taxi suchen zu müssen, und auch das Risiko, dass ich überhaupt niemanden finden würde, der sich auf die Fahrt einließe (was nicht ausgeschlossen war, je nachdem, wie sich die Covid-Situation entwickelte).

Aber weil wir schon längst in einer Phase waren, in der die Dinge sich andauernd änderten, nicht von Tag zu Tag, sondern von Stunde zu Stunde, trat genau an dem Tag, an dem ich nach Hause fahren wollte, in Nordmazedonien ein Beschluss in Kraft: Alle, die aus Risikogebieten (hierzu gehörte Bulgarien) oder Hochinzidenzgebieten in aller Welt zurückkehrten, mussten in staatliche Quarantäne! Das war anders als zuvor, als noch der Beschluss zu häuslicher Quarantäne bzw. zur empfohlenen Selbstisolation bestand. Jetzt musste man in staatliche Quarantäne, von der niemand wusste, wo sie stattfinden würde und wie sie aussehen sollte. Im Internet verbreiteten sich sofort Bilder von grauenerregenden Orten mit nur rudimentären Lebens- und Hygienebedingungen, und all das vergrößerte die Anspannung, die Ungewissheit und auch die Angst vor der Heimkehr.

Das Haus für Übersetzung und Literatur, in dem ich untergebracht war, machte mir das Angebot, so lange zu bleiben, wie ich wollte, weil der polnische Schriftsteller, der im nächsten Monat hätte kommen sollen, seinen Aufenthalt abgesagt hatte, und so stand ich vor einer schweren Entscheidung: Sollte ich um jeden Preis zurückfahren? Aber was, wenn ich nicht jetzt zurückkehrte? Alles schien nur immer komplizierter zu werden, und ich konnte nicht glauben, dass sich irgendetwas in nächster Zeit wesentlich zum Besseren wenden würde, und genauso wenig, dass der Beschluss zu staatlicher Quarantäne schon bald wieder zurückgenommen würde. Also, dachte ich mir, müsste dieser Weg sowieso früher oder später beschritten werden.

„Hast du immer noch vor, abzureisen?“, fragte mich Aleksandar, der nordmazedonische Konsul. „Ich fahre trotz allem morgen“, antwortete ich ihm am Samstagabend, als ich ein letztes Mal meine Entscheidung überdacht hatte, mich in die Herausforderung zu stürzen, die ironischerweise genauso genannt werden kann wie der Roman, an dem ich schrieb: „Auf dem Heimweg“.

Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen, an meinen letzten Spaziergang mit meinem bulgarischen Freund Ivan durch Sofia. Wir bewegten uns nur auf den Bürgersteigen, Grünflächen geschickt vermeidend, um zur Vitoška-Straße zu gelangen. Doch auch dort blieben wir in Bewegung, gingen immer weiter, ohne stehenzubleiben, mit dem einzigen Ziel, uns bis zu einem Wiedersehen in einer besseren Zukunft zu verabschieden. Die eine oder andere Fotografie, den einen oder anderen gezwungenen Scherz und die eine oder andere gerauchte Zigarette später trennten wir uns, er ging in die eine Richtung und ich in die andere, zurück zu meiner Latinska-Straße, quer durch den niemals zur Gänze ausgemessenen Boris-Garten. In einem der letzten Augenblicke dieses gemeinsamen Spaziergangs stahl sich Ivan kurz fort und kaufte mir eine Sonnenbrille, mit der ich mir auf der Reise nach Skopje die Augen schützen sollte (vor dem Risiko, mich anzustecken).

Am Sonntag um zwanzig vor neun kam Jana Gerova, die Direktorin von Next Page, ins Haus, um mich zu verabschieden. In ihrer herzlichen und typisch balkanischen Art gab sie mir eine Tasche mit Reiseutensilien: Bücher, Proviant (eine herrliche hausgemachte Pita) und Desinfektionsmittel.

Pünktlich um neun war ich in der Botschaft, wo mich der Konsul nach einem freundschaftlichen Beisammensein mit Kaffee und Plauderei ins Abenteuer „entließ“: die Heimkehr mit einem Diplomatenwagen und dem Botschaftsfahrer. Und diese Fahrt war trotz der Last der Ungewissheit – „was kommt jenseits der Grenze?“ – ein angenehmes, sonniges Abschiednehmen vom schönen Bulgarien.

Mittags: die nordmazedonische Grenze und der Beginn des Abenteuers „Auf dem Heimweg“. Hätte ich gewusst, dass ich gezwungen sein würde, zehn Stunden lang zu warten, hätte ich vielleicht ein Buch gelesen. Hätte ich gewusst, dass wir zehn Stunden lang an einem Ort warten würden, hätte ich mir vielleicht die Mühe gemacht, den Koffer, den ich nur mit Anstrengung zubekommen hatte, zu öffnen und zusätzliche Kleidung herauszunehmen, um mich vor dem kalten Märzwind zu schützen, der immer stärker wurde, als die Nacht hereinbrach. Hätten wir es gewusst, alle diese Menschen, die einer nach dem anderen aus den unterschiedlichsten Ecken der Welt hier ankamen und unterwegs wer weiß was für missliche Situationen überstanden hatten, hätten wir vielleicht einmütig ein Feuer angezündet. Aber erst spät sollten wir erfahren, dass das schlechte Krisenmanagement in der Pandemie vorsah, zu warten, bis sich zwanzig Menschen eingefunden hätten, also buchstäblich den ganzen Tag zu warten, bis uns ein Bus einsammeln und in die staatliche Quarantäne bringen würde (von der immer noch niemand wusste, wo sie war und wie sie aussah). Die Grenzbeamten jedenfalls erzählten uns seit 14.00 Uhr, der Bus komme gleich.

Gegen 22 Uhr kamen die Busse dann: zwei Minibusse, auf die wir zu je zehn Personen aufgeteilt wurden und mit denen wir die zwanzig Minuten nach Kriva Palanka fuhren, die ganze Zeit von Polizei eskortiert. Dort stiegen wir in einen großen Bus um. Erst als wir in diesen Bus stiegen, verkündete uns der Fahrer – vorher hatten es uns weder die Grenzbeamten noch die Polizisten noch die Fahrer sagen können –, dass wir zum Hotel Ibis in Skopje gebracht würden. Ich höre noch immer meinen Seufzer der Erleichterung angesichts dieser Auskunft, und ich spüre die Erleichterung meiner Eltern und Freunde, die ebenfalls zehn Stunden lang gewartet hatten, fern von mir, aber doch mit mir und mit derselben Angst angesichts der schrecklichen Bilder von alten Militärbasen, die schon am Vortag im Internet kursiert waren. Erst jetzt, im mitternächtlichen Dunkel im Bus, der durch mir vertraute Gegenden fuhr, hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, nach Hause zu fahren.

Das Ibis in Skopje ist ein Hotel mit hervorragenden Bedingungen für einen Aufenthalt und, für mich noch wichtiger, hervorragenden Bedingungen zum Schreiben. Ich war allein im Zimmer, und obwohl ich es nicht verlassen und auch die Tür nicht öffnen durfte, außer, es klopfte jemand an (und angeklopft wurde, wenn man zum Fiebermessen kam oder Essen gebracht wurde), erinnere ich mich wirklich nur mit positiven Gefühlen an diese zwei Wochen dort. Damals verfasste ich den zweiten Teil des Romans, der sich unter dem Einfluss der Geschehnisse, die ich durchlebt hatte, in eine ganz unerwartete Richtung entwickelte. Das letzte Kapitel, genannt „Quarantäne“, fing buchstäblich mein eigenes Erleben ein und gestaltete es zur Erfahrung meiner Hauptfigur um, die auch nach Hause zurückkehrte, und zwar auf eine ausgesprochen explizite, unerwartete und für mich sogar richtig lustige Weise. Meine Figur und ich teilten die Geschichte, sie wurde zu unserer Geschichte, und das bedeutete, dass wir auch schlaflose Nächte teilten, Träume, Alpträume, Ängste und Freuden, ja sogar meinen Geburtstag, den wir gemeinsam feierten, an dem wir gemeinsam älter und reifer wurden. Genau da, gegen Ende dieser Quarantäne, die sich für mich als zweiter Teil der Literatur-Residenz erwiesen hatte, wurden wir eins, meine Figur und ich.

Das Verfassen eines Romans hat, abgesehen von den vielen Möglichkeiten, die es einer Autorin oder einem Autor bietet, wie etwa die Aufnahme des Romans durch das Lesepublikum oder das eigene Wachsen und Reifen mit jeder neuen Wirklichkeit und mit allen selbst erschaffenen Figuren, noch etwas, was für mich genauso wertvoll und genauso schön ist wie all das zuvor Erwähnte: den Schreibprozess selbst. Jeder meiner Romane hatte einen ganz eigenen Schreibprozess, und jeder davon war eine Geschichte für sich, die mir genau so lieb ist wie der Roman selbst. Aber dieser letzte, „Auf dem Heimweg“, war für mich und auch meine Figur eine schwindelerregende Rückkehr zur Wirklichkeit, zur Realität, die uns so oft entgleitet, sich vor unseren Augen losreißt wie ein Luftballon, den man in einem unachtsamen Moment loslässt. Eine Rückkehr zu den Träumen, zur Fantasie, die Wirklichkeit werden will. Der Schreibprozess an diesem letzten Roman bedeutete für mich ein ganzes Leben mit seinem Verlauf von der Geburt über das Heranwachsen und Reifen bis zum Altern, aber ohne den unausweichlichen Tod, den wegzulassen ich als Autorin mir erlauben konnte. Ein Leben im Leben, das zu sehen und aufzuschreiben und zu durchleben ich das Privileg hatte.    

Romanauszug aus Auf dem Heimweg

Die erste Nacht. Warum ruft sie nicht an? Sie weiß doch, dass ich unterwegs bin. Vielleicht weiß sie ja nicht, wann ich zurückkommen sollte. Vielleicht hat sie es vergessen. Vielleicht hat sie wirklich Schluss gemacht, und ich habe es vor lauter Begeisterung über meine fliegenden Teppiche nicht bemerkt.

Ich träume, dass ich mit Andrej an der Hand durch die Straße, die auch er schon kennt, auf das Haus meiner Großmutter zugehe. Das rosafarbene Haus gibt es im Traum nicht, es scheint gar nicht zu existieren, und unser Ziel hat nichts damit zu tun. Ich möchte Andrej nur das Haus meiner Großmutter zeigen, und meines Großvaters, an den ich mich kaum noch erinnere. Warum ich mich entschieden habe, das im Dunkeln zu tun, weiß ich nicht. Wir gehen auf das Haus zu und ich bemerke, dass es erleuchtet ist, was eigentlich nicht sein dürfte. Andrej und ich nähern unsere Nasen dem Fenster, und was wir sehen, jagt ihm keinen Schrecken ein, weil er die Leute dort nicht kennt, aber mir lässt es die Haare vor Entsetzen weiß werden. Klar und deutlich sehe ich meine Großeltern vor mir, wie sie zu Abend essen, sich unterhalten und lachen, und wie sie all das tun, als wären sie noch am Leben. Ich erkenne ihre Gesichter eindeutig, obwohl ich doch weiß, dass sie schon längst tot sind, im Traum weiß ich nicht, dass es ein Traum ist, sondern denke, dass es Wirklichkeit ist, so wie mir das oft passiert. Plötzlich entdeckt meine Großmutter uns und macht Großvater auf uns aufmerksam, und ich erstarre vor Angst. „Sollen wir sie reinlassen?“, fragt sie ihn. „Nein, nein, es ist zu früh für sie“, antwortet er. Der Augenblick ängstlicher Ungewissheit wird von meiner Großmutter beendet, die uns unbedingt treffen will und sagt: „Ich lasse sie aber trotzdem rein.“ Da wird meine Angst zu Entsetzen und arbeitet heftig in mir, so wie mein Überlebensinstinkt und mein Vaterinstinkt und meine Kenntnis all der Geschichten, in denen die Toten jemanden zu sich eingeladen haben, um ihn dann für immer bei sich zu behalten. Ich packe Andrej und schreie laut und deutlich „Neeeeeeeeiiiiin“ und renne los, über den Gartenweg zur Straße, und die Straße verwandelt sich in tiefen Morast, und während ich versinke, halte ich Andrej noch immer sicher über der Oberfläche, aber ich weiß nicht, wie lange noch, ich weiß nicht, bis wann. Dann wache ich auf.

Ein Klopfen an der Tür hat mich geweckt. Laut Hausordnung darf man die Tür nicht öffnen, außer, es klopft jemand an. Und es klopfen entweder der Arzt oder ein Hotelangestellter, der Essen bringt, jeweils in Begleitung eines Polizisten. Alle tragen Schutzanzüge. Ich öffne und sehe zwei in weißen Schutzanzügen vor mir, und ich habe keine Ahnung, wer von beiden wer ist, begreife es aber schnell, als einer ein Thermometer rausholt. Meine Temperatur ist in Ordnung. Ich weiß nicht, ob es ein kurzer Moment der Verzweiflung ist, nachdem ich eigentlich geglaubt hatte, mich mit der Situation abgefunden zu haben, oder ob es an einer kleinen irrationalen Hoffnung liegt, aber ich bitte sie, mich nach Hause zu lassen, versuche sie davon zu überzeugen, dass ich alle Bedingungen erfüllen könne, dass ich eine Wohnung gemietet hätte, nicht zu meiner Familie und natürlich auch überhaupt nicht ausgehen würde, dass ich nur hier weg wolle, um dem Staat nicht auf der Tasche zu liegen. Sie lächeln mich aufmunternd an und sagen, ich solle doch die fünfzehn Tage genießen. Ich bleibe hartnäckig und frage, ob ich mit einem Vorgesetzten reden könne, um zu besprechen, ob ich mich testen lassen und in Selbstisolation begeben könne, aber da antwortet mir der eine in strengerem Tonfall, ich solle Ruhe geben, die nächsten zwei Wochen würde ich hier verbringen, besser solle ich mir eine Beschäftigung suchen. Er rät mir, das Ganze als Jahresurlaub auf Rechnung des Staates zu sehen. Die diffuse Hoffnung, die sich kurz in mir geregt hat, erstirbt in diesem Moment für immer.

Auf einmal wird alles zu einer Abfolge von Bildern aus Träumen und Wirklichkeit mit einer Oberfläche aus zehn Quadraten, alles läuft ineinander, in Gedanken voller Ungewissheit und einer Sehnsucht nach Wirklichkeit, die weder physisch entfernt noch exotisch ist.

An einem Tag irgendwann zu Beginn der Quarantäne ruft Irina an, und ich überlege lange, ob ich drangehen soll. Ich will es nicht so, wahrscheinlich hat sie etwas gehört, sicher hat sie es erfahren, aber ich will jetzt keine Reue zeigen, nicht bei einem Telefonat, das so kurz sein wird wie alle anderen zuvor, in denen sie mir gegenüber deutlich und auch ganz berechtigt reserviert war. Es klingelt zum zweiten Mal, und ich bekomme Angst, dass etwas Schlimmes passiert ist, dass Andrej etwas zugestoßen sein könnte.

„Wie geht`s?“

„Geht. Und euch?“

„Ich muss für zwei, drei Stunden ins Büro. Kannst du Andrej zu dir nehmen? Du bist doch da, oder?“

Ich benötige einen langen, langen Seufzer und noch ein paar Sekunden mehr, um meine Stimme fest klingen zu lassen, die mir zu versagen droht und gerade jetzt nicht versagen soll.

„Irina … Ich bin in Quarantäne. In staatlicher Quarantäne.“

Aus dem Mazedonischen von Benjamin Langer.

Frosina Parmakovska, geboren 1985 in Skopje, Nordmazedonien, studierte Allgemeine und komparative Literatur sowie Kulturologie. Sie schreibt Romane und wurde 2017 für ihren dritten, Countdown, mit dem Preis für den Roman des Jahres der mazedonischen Slavko-Janevski-Stiftung ausgezeichnet. 2020 erschien ihr vierter Roman, On the Way Back. Parmakovska lebt und arbeitet in Skopje.

Fotos von © Frosina Parmakovska.

Projektleitung: Barbara Anderlič
Design: Beri